S.P.: Sehr gerne möchte ich mit Ihnen heute über die Be- deutung von Rassismuskritik im Allgemeinen, aber auch für die Offene Kinder- und Jugendarbeit sprechen. Was bedeutet eigentlich Rassismuskritik im Kontext von diskriminierungs- sensibler Pädagogik? Vielleicht auch mit Blick auf die aktuel- len gesellschaftlichen Entwicklungen. Prof. Dr. Birgit Jagusch (folgend abgekürzt B.J.): Ich glaube, wenn wir die Frage beantworten wollen, lohnt es sich, einen Blick nach hinten zu werfen. Wie hat Pädagogik auf die Ver- änderungen einer durch Diversität charakterisierten Gesell- schaft in den letzten Jahrzehnten reagiert. Ich glaube, das ist so das Setting, von dem aus wir einen Blick auf Rassismus- kritik wagen sollten. Seit den 50er und 60er Jahren war der pädagogisch geleitete Blick auf Diversität und auf Menschen mit Migrationshintergrund oder of colour ein von Defiziten geprägter Blick. Wie beispielsweise die Ausländerpädagogik, die in den 70er und 80er Jahren en vogue war. Verstanden als Versuch, „Probleme“ von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu beheben oder zu pädagogisieren. Ich glaube, alleine meine drei Sätze, die ja schon mit ganz vielen Stigmata und Stereotypen besetzt sind, die man vielleicht heute so nicht mehr sagen würde, machen deutlich, dass der Blick der Rassis- muskritik heute ein ganz anderer ist. Es ist einer, der sich anschaut, wo Barrieren und Gewaltverhältnisse sind, aber auch latente und subtile Ausgrenzungserfahrungen von Menschen durch Men- schen und auch durch Strukturen, die eine gerechte Teilhabe verunmöglichen. Wenn wir dann zum Begriff der Diskrimi- nierungssensibilität kommen, dann bedeutet dies, dass eben jede ungerechtfertigte und ausgrenzende Ungleichbehand- lung verhindert werden soll. Ich glaube, das ist ein Auftrag an Pädagogik, der sich in den letzten Jahren sehr verändert hat, weil sich auch Gesellschaft in den letzten Jahren sehr verändert hat. Dazu tragen wissenschaftliche Diskurse wie Rassismuskritik bei, Intersektionalitätsforschung, Ansätze der Migrationspädagogik, aber auch aktivistische Initiativen, die in den letzten Jahren auch sehr viel Einfluss auf Wis- senschaft und Praxis genommen haben, und dazu führen, dass es darum geht, die Gewalt zu thematisieren, die vom Rassismus ausgeht. Weil dies für mich einer der Inhalte von Rassismuskritik ist, kann nicht gesagt werden, es geht um eine individuelle Haltung, ein Vorurteil, sondern Rassismus- kritik im Sinne von Diskriminierungskritik bedeutet anzuer- 18 IM PÄDAGOGISCHEN SINNE MUSS ES ALSO VOR ALLEM DARUM GEHEN, GEWALT ZU VERHINDERN UND ZU VERUNMÖGLICHEN. kennen, dass Menschen Gewalt angetan wird und dies nicht nur auf individueller, sondern auch auf struktureller Ebene. Im pädagogischen Sinne muss es also vor allem darum gehen, Gewalt zu verhindern und zu verunmöglichen. Wichtig ist vielleicht auch noch, warum ich lieber von Rassismus- kritik und nicht Antirassismus spreche, denn ich bin über- zeugt, dass es wichtig ist, anzuerkennen, dass Rassismus nicht etwas ist, was Menschen nur außerhalb der Offenen Kinder- und Jugendarbeit trifft und es Räume gäbe, die frei von Rassismus seien. Rassismuskritik geht davon aus, dass Rassismus in den Strukturen verwurzelt ist, also so lange sich die Strukturen nicht ändern, es kein Außerhalb geben kann. Durch Rassismuskritik können entsprechend auch die Verhältnisse verändert werden. S.P.: In Ihren Ausführungen wird sichtbar, dass Rassismus eine Reproduktion von Geschichte ist - von nicht vergangener Vergangenheit – bei der das Wissen darum immer weiter re- produziert wird. B.J: Auch mit Blick auf Herausforderungen der Rassismuskritik. Ich gehe hier von meinem Verständnis aus. Der erste Punkt wäre dann, anzuerkennen, dass das Reden über Rassismus alle Menschen betrifft. Die Einen, und das spielt in den Critical Whiteness Studies eine große Rolle, können sich aussuchen, ob sie sich mit Rassismus beschäftigen, da sie eben strukturell privi- legiert sind und deswegen nicht negativ von Rassismus ge- troffen sind. Während die Anderen tagtäglich davon betroffen sind, dies auch in den unterschiedlichsten Erscheinungs- formen. Das stellt den sozialarbeiterischen Ethos, im Sinne der Menschenrechte zu agieren, vor Herausforderungen: Wie gehe ich damit um, Teil von Strukturen und Praxen zu sein, die ich eigentlich, ethisch gesehen, ablehne? Denn natürlich wollen wir niemanden ausschließen und gewalttätig sein, und doch sind wir es oft. Es gilt genau diese Verstrickung anzu- erkennen. Nur wenn wir darüber nachdenken und darüber reflektieren können, auch über Safe-spaces tatsächlich reden und diese realisieren. Das ist die Grundhürde, über die wir springen müssen. Das tut natürlich weh, denn, ob ich will oder nicht, bin ich dadurch erstmal ein Teil von Gewalt. Diese Herausforderung müssen wir annehmen, um anschließend auch Projekte durchführen zu können. Das bedeutet aber auch, mal zuzuhören. Im Diskurs sprechen